Sinfonie Nr.4
op. 43
UA 1961 Moskau
spezielle Besetzung: 37 Bläser, 2 Harfen, 6 Timpani (14 Schlagzeuger) Xylofon, Celesta, Kastagnetten
3 Sätze: Allegretto poco moderato — Moderato con moto — Largo/Allegro
Die 4. Sinfonie ist in den Jahren 1935 und 36 entstanden, konnte aber erst 25 Jahre später, 1961, uraufgeführt werden; weshalb, wird aus der Visualisierung deutlich hervorgehen, bedarf dann aber einiger Zusatzbemerkungen.
Einleitung
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Bevor Sie sich an die progressive Vierte heranwagen, hören Sie doch die Neunte oder die Fünfte. Sie sind beide zugänglicher. Schon der Beginn der Vierten wirkt zugriffig. Weil dieser Energieschub aber mehrmals abgeblockt wird, fragt man sich wohin das führen soll. Eine friedliche Liedform ist zu erkennen. Verstörend aber wirkt es, wenn die Klangentwicklung mehrmals an Fortissimo-Blöcken aufläuft. Lassen Sie sich deshalb von der lustigen Fischpredigt im zweiten und den Walzertakten im dritten Satz verführen. Dass Sie zu Beginn des ersten Aktes die darin versteckte «Internationale» nicht herausgehört haben, darf Sie nicht beunruhigen, sie ist ja auch von der Fachwelt erst 2021 entdeckt worden. Und die schöne Nase im zweiten Satz können Sie erst anschauen, wenn Sie die Seite 122 der Partitur zur Verfügung haben. Aber lesen Sie doch den Zeitungsartikel «Schostakowitsch dreht alle eine Nase» auf dem Internet.
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Die 4. Sinfonie ist in den Jahren 1935 und 36 entstanden, konnte aber erst 25 Jahre später, 1961, uraufgeführt werden; weshalb, wird aus der Visualisierung deutlich hervorgehen, bedarf dann aber einiger Zusatzbemerkungen. Neu in dieser Sinfonie ist der direkte Bezug zu Gustav Mahler, dessen Sinfonien ihm durch seinen Freund Iwan Sollertinski nahegebracht wurden, denn dieser hatte ein Buch über Mahler publiziert. Beide waren sich bewusst, dass jeder Bezug zu westlicher Musik bei der sowjetischen Kulturbürokratie Misstrauen hervorrufen musste.
Mit drei grellen Akkorden setzt das Werk ein und fährt mit schwer stampfendem Vierertakt fort, bricht abrupt ab, baut sich eher mühsam mit dem gleichen Material wieder auf, bricht aber nochmals ab. Ganz unscheinbar setzt ein Fagott ein, wobei die ersten sieben Töne, rhythmisch leicht verfremdet, als Zitat eines Liedes von Gustav Mahler erkannt werden. Weitere elfmal wird es im ersten Satz eruiert und dreimal im dritten Satz. «Auf der Strasse stand ein Lindenbaum» heisst die zitierte Zeile im Mahler-Lied und ist «aus einer anderen Musiksprache, gleichsam aus einer ’heilen Welt’, die in diesem Zusammenhang nicht mehr lebensfähig ist». So hört die Musikologin Dorothea Redepenning diese sieben Töne. Jedesmal sind sie anders instrumentiert und können, wenn von acht Hörnern gespielt, pompös oder auch aggressiv klingen. Sie kommen aber auch im 3/4-Takt von der ersten Violine gespielt daher, aber erst 20 Takte später sitzt das Walzer-Kostüm für Bassklarinette und Kontrabass perfekt. Der Walzer spielt auch im dritten Satz eine eigenständige Rolle, beim ersten Erscheinen wirkt er grotesk, beim zweiten lasziv und beim dritten Mal ist er demontiert oder sogar zerstört. Die satzübergreifenden Elemente deuten an, dass ihnen Schostakowitsch erhöhte Bedeutsamkeit verleihen will. Hier ist es der 3/4-Takt, der im Umfeld eines Trauermarsches doch eher seltsam wirken muss. Wenn die Lindenbaum-Varianten 7, 8 und 9 im ersten Satz als Walzer daherkommen und der zweite Satz durchgehend im 3/8-Takt verharrt, aber niemals sich als walzerartig gebärdet, erkennen wir die drei Walzerpassagen im dritten sofort in ihrer «kritisierenden» Funktion. Dass der Trauermarsch ebenso als Karikatur zu verstehen ist, wird schon im ersten Einsatz der vier Fagotte deutlich (ab Takt 12) und wird bestätigt, wenn Vogelstimmen laut werden und anschliessend sogar ein Kuckucksruf zu vernehmen ist.
Kernpunkt der vierten Sinfonie aber ist der zweite Satz mit dem nicht zu überhörenden Verweis auf die zweite Sinfonie von Gustav Mahler. Darin hat Mahler sein eigenes Lied «Des Antonius von Padua Fischpredigt» eingebaut, auf das sich dann Schostakowitsch bezieht, indem er ihm ein einfaches Fünfton-Motiv entnimmt und es in dreizehn charakterlich völlig unterschiedlichen Varianten einsetzt. Die Seite 122 der Partitur (Sikorski ED. NR. 2218) ist visuell zu erklären, weil das Notenbild deutlich eine Nase darstellt. Schostakowitsch muss dies ganz bewusst so gewählt haben, denn es gibt keinen musikalischen Grund, hier die Holzbläser jeweils um einen Sechzehntel verschoben einzusetzen, damit die Nasenkontur entstehen konnte. Nach der Bedeutung dieser «Nase» müssen wir aber anderswo suchen: beim Verweis auf die zweite Sinfonie von Gustav Mahler. Das erwähnte Fünfton-Motiv ist nämlich unterhalb der Nase, also in der Mundgegend des Kopfprofils angesetzt und ist der Zeile «Er geht zu den Flüssen und predigt den Fischen» entnommen. Die Predigt des Antonius ist aber laut der letzten Strophe des Gedichts völlig nutzlos. Worauf das abzielen soll, wird im zweiten Satz nicht klar. Erst wenn man entdeckt, dass im ersten Satz die siebzehn Silben der zwei ersten Zeilen der «Internationalen» versteckt sind – «Wacht auf, Verdammte dieser Erde, die stets man noch zum Hungern zwingt» - erschliesst sich das Rätsel: Auch ihr könnt predigen soviel ihr wollt, es ist sinnlos! Es wird auf die Anforderungen des «Sozialistischen Realismus» an die Kultur gemünzt sein oder es ist an die Politprominenz gerichtet.[1] Die «Internationale» war die sowjetische Nationalhymne; Stalin hat sie dann 1944 durch die neue Hymne «Rühme dich, unser freies Vaterland» ersetzt. Schon in seiner Musik zum Film «Podrugi» (Freundinnen, 1935) hatte Schostakowitsch die «Internationale» verwendet und sie vom elektronischen Musikinstrument Theremin spielen lassen, so dass es wie die «Singende Säge» tönte.
Der dritte Satz konzentriert die Gegensätze mit dem Trauermarsch am Anfang und am Schluss, mit zwei aufdringlichen Abschnitten von roher Gewalt, wohlverstanden im Dreivierteltakt, aber mit nicht enden wollendem stupidem Rhythmus. Die drei Lindenbaum-Zitate in ungewohnt aggressiver Umgebung werden klanglich völlig überfahren und leiten über zu den Walzeranklängen im ruhigen Mittelteil, wobei der zweite Walzer dem Fischpredigt-Motiv aus dem zweiten Satz eine neue Variante verpasst. Hier dominiert die Solo-Posaune (T 611-752) souverän und wird durch Kuckucksruf und Gewaltmotiv konterkariert. Die verlangte Lustigkeit wird parodiert und letztlich ausgetrieben. Die Ergebenheitsadresse an die Obrigkeit wird von anhaltendem Paukengewitter begleitet (zwei Spieler während 130 Takten) von Trauerklang abgelöst und in liegenden Klang ausgedünnt – «morendo» – so wie auch der erste Satz geendet hatte.
Eine Tonfolge im Mittelteil (T 514) muss noch speziell erwähnt werden, weil sie in weiteren Sinfoniesätzen variiert auftaucht und 1942 ihre adäquate Aussageform gefunden hat: das MacPherson-Motiv, welches im dritten Lied der «Romanzen op. 62» (1942) den Gang zum Galgen verulkt. Rückblickend aber erkennt man schon im ersten Satz (ab T 6) die verwandte Geste mit dem energischen Aufgang und der skurrilen Wende nach unten. > Die «gestische Metamorphose» der MacPherson-Tonfolge nach Sinfonie 4, Sätze 1–3. Ebenso ist auch im ersten und dritten Satz das Vierton-Motiv zu finden, das Bernd Feuchtner schon 1986 als «Gewaltmotiv» bezeichnet hat. [2]
Solche werkübergreifenden Elemente sind in der vierten Sinfonie von besonderer Bedeutung, denn das Werk ist kurz vor der Uraufführung zurückgezogen worden (ziemlich sicher unfreiwillig), enthielt aber einige kompositorische Errungenschaften, die Schostakowitsch wohl nicht endgültig als blockiert ansehen wollte. Es sind dies die auffälligen Crescendo-Passagen, die sich wie Mauern aufrichten und die Entwicklung zum Stillstand bringen, das unerträglich lange Verharren auf einem sturen Rhythmus-Modell, die Anwendung der Flatterzunge und der liegende Klang im Finalsatzende, die alle in der achten Sinfonie eingesetzt werden. Das Fischpredigt-Zitat erklingt sowohl in der fünften wie auch in der sechsten Sinfonie.
Das «Jugenderlebnis-Motiv» hat Schostakowitsch erstmals in der zweiten Sinfonie eingesetzt > vgl. Einleitungstext zur 2. Sinfonie
[1] Jakob Knaus: Schostakowitsch dreht allen eine Nase, NZZ 28. August 2021
Jakob Knaus: Im 21. Jahrhundert finden wir versteckte Botschaften eher. In: Schostakowitschs Musiksprache – Schostakowitsch-Studien 12, hrg. von Bernd Feuchtner, Wolke Verlag Hofheim 2023, S.129-143
Jakob Knaus: Die Visualisierung von Schostakowitschs Musik anhand der 4. Sinfonie. In: Schostakowitschs Musiksprache – Schostakowitsch-Studien 12, hrg. von Bernd Feuchtner, Wolke-Verlag Hofheim 2023, S. 383–391
[2] Bernd Feuchtner: Dimitri Schostakowitsch. Und Kunst geknebelt von der rohen Macht. Künstlerische Identität und staatliche Repression. Frankfurt 1986, S. 171
Satz 1 — Allegro poco moderato
mit «Internationale» und Zitaten
Dauer: 27 min
Satz 2 — Moderato con moto
mit Fischpredigt-Zitatvarianten und «Nase»
Dauer: 9 min
Satz 3 — Largo. Allegro
mit Trauermarsch, Walzer, Vogelstimmen und Zitaten
Dauer: 29 min
Sätze 1—3
mit satzübergreifenden Elementen
Dauer: 26 min
Die «gestische Metamorphose»
der MacPherson-Tonfolge
Die 4. Sinfonie erweist sich in verschiedener Hinsicht als folgenreich:
Die in der Fachliteratur oft erwähnte "MacPherson"-Tonfolge, welche in einigen der späteren Sinfonien in verschiedenen Abwandlungen aufklingt, hat ihren Ausgangspunkt in der 4. Sinfonie, aber nicht erst im dritten Satz (Takt 513), wie dies Michail Koball[1] zeigt, sondern schon im allerersten Motiv des ersten Satzes:
[1] Koball, Michael: Pathos und Groteske, Seite 125ff
Hier in den Takten 6-10 steht das Modell für das Motiv, das in den Sinfonien 5, 6, 7, 9 und 13 in Varianten auftaucht, aber auch in der dritten der "Sechs Romanzen nach Versen englischer Dichter" op. 62 aus dem Jahre 1942.
Anscheinend hat diese aufsteigende Tonfolge mit der darin eingelegten Pirouette für Schostakowitsch mehrfache Assoziationsreize ausgelöst und 1942 in "MacPhersons Farewell", bei der Zeile im Tänzerischen ihre adäquate Geste gefunden.
So unbeschwert, so frohgemut, so furchtlos sah man ihn
beim letzten Gang mit Tanz und Sang hinaus zum Galgen ziehn.
Sae rantingly, sae wantonly, sae dauntingly gaed he;
he played a spring and danced it round, below the gallows tree.
Schliesslich bringt Schostakowitsch das Motiv zwanzig Jahre später nochmals, im zweiten Satz der 13. Sinfonie mit der Überschrift "Der Witz", nach der Doppelzeile
Da zogen mit Pauken und Trara
die Gaukler zum Mummenschanz –
gleich rief unser Witz: Bin wieder da!
und schmiss seine Beine im Tanz.
Selbst im fünften Satz der 9. Sinfonie kann man dieses Modell in den ersten Takten erkennen, aber auch in der Durchführung (Takt 287)!
Und wenn man noch genauer hinschaut, ist das Modell sowohl im vierten Satz der 5. Sinfonie,
im dritten Satz der Sechsten
und im zweiten Satz der 7. Sinfonie zu erkennen:
Der Geste wohnt in allen diesen Erscheinungen ein aggressives Aufstreben mit einer neckischen Pirouette inne.
Und wenn man daran zurückdenkt, dass einige Kritiker bei der 9. Sinfonie enttäuscht festgestellt haben, dass sie so einfach daherkomme wie ein Haydn-Sinfonie, dann kann man sich heimlich daran ergötzen, dass Papa Haydn mit seiner 102. Sinfonie das Vorbild für diese MacPherson-Geste geliefert haben könnte: