Sinfonie Nr.2

op. 14 «An den Oktober»

UA 1927 Leningrad
spezielle Besetzung: 20 Bläser, Fabriksirene, gemischter Chor
In einem Satz: Largo/Allegro molto

Die zweite Sinfonie ist 1927 im Auftrag der sowjetischen Propagandaabteilung «Mus-Sektor» zum 10. Jahrestag der Revolution 1917 komponiert worden. Der Text von Alexander Besimenski war vorgegeben.

 

Einleitung

  • Ein 20-jähriger Jungkomponist hat den Auftrag einer hohen staatlichen Kulturbehörde erhalten, eine Sinfonie zum 10. Jahrestag der 1917er-Revolution zu schreiben. Immerhin ist seine erste Sinfonie auch schon im Ausland aufgeführt worden. Vorgeschrieben war die Verwendung eines Textes, den er zwar als schlecht bezeichnete, aber dann doch für den finalen Teil einsetzte. Der Oktober und Lenin werden besungen. Zur Diskussion Anlass gab der Einsatz einer Fabriksirene zur Eröffnung des Chorteiles, nicht aber das versteckte «Happy Birthday» im ersten Teil, der im freitonalen Streichersatz nach Musik der 1950er Jahre klingt - ein starkes Stück, den populären Song des Klassenfeindes zu zitieren. Das Zitat ist erst in den 90er Jahren entdeckt worden!

  • Der Text von Alexander Besimenski war vorgegeben. Schostakowitsch hat ihn in einem Brief an Boleslaw Jaworski als «sehr schlecht» bezeichnet: Den Chor schreibe ich nur mit Mühe. Die Worte!!! Doch dafür habe ich vor dem Chor eine gelungene Stelle geschrieben, die inoffiziell «Tod eines Kindes» heisst. [1] In der Literatur wird heute diese Stelle als «Jugenderlebnis-Motiv» bezeichnet. Die Gratulation zum Geburtstag der Revolution wird im 27-stimmigen Streichergewusel versteckt: Die Trompete (mit Dämpfer) setzt in einer umfangreichen Tonfolge ganz diskret die sechs Töne des «Happy Birthday to you» ein. 1893 ist das weltbekannte Geburtstaglied von Mildred J. Hill in Kentucky komponiert und hundert Jahre später von einer amerikanischen Musikforscherin hier in Schostakowitschs zweiter Sinfonie entdeckt worden. [2]

    Das ist insofern nicht erstaunlich, denn die staatlichen Zensoren hätten sich in der Klangwelt der ersten 98 Takte zurechtfinden müssen, die in freier Atonalität an Musik von Edgar Varèse oder György Ligeti denken lässt, denn nur mit gespitzten Ohren hätte man dieses «Markenzeichen» des Klassenfeindes heraushören können – allerdings schon etwa zweieinhalb Minuten nach Beginn. Aber auch im Westen war die Wissenschaft noch lange nicht bereit, solche «Einsprengsel» ernst zu nehmen. In Wolfram Steinbecks Beitrag «Zu Schostakowitschs früher Symphonik» von 2004 ist die Happy Birthday-Passage im Partitur-Ausschnitt abgedruckt und mit folgender Fussnote versehen: Nach Michael Koball soll der Anfang ein Zitat von «Happy birthday» sein.[3] Formale und harmonische Aspekte standen zu dieser Zeit noch immer im Vordergrund einer Analyse. Dass bei der Beurteilung politisch belasteter Musik andere Aspekte zur Ergänzung nur ungern zugelassen werden, kann man bis in die heutige Zeit beobachten.

    Die Fabriksirene zu Beginn des Chorteiles war da für die Zensoren leichter als Fremdkörper zu erkennen, wurde aber sofort akzeptiert, im Sinne des sozialistischen Realismus, die industrielle Arbeitswelt hereinzunehmen. Und auch die Futuristen hatten ihre helle Freude daran, den jungen Komponisten auf diesem Weg zu sehen. Die zehnteilige Fuge im Mittelteil ist ein harter Kontrast zum «fliessenden Cluster» des Anfangs, denn die Fuge ist ein kompositorisches Element der Barockzeit. Aber auch diese Art wirkt neuartig; Michael Koball bezeichnet diesen Abschnitt als «bruitistisches Orchestergeflecht», da das Fugenthema derart komplex aufgebaut ist und in zehn Einsätzen durchexerziert wird.

    Eine persönliche Note brachte Schostakowitsch mit seinem «Jugenderlebnis-Motiv» in den Sinfoniesatz, das mit seiner eigenen Biografie in direkter Beziehung stand:

    Als die Oktoberrevolution ausbrach, war ich ebenfalls auf der Strasse, und vor meinen Augen wurde ein kleiner Junge erschossen (der Schütze war, wie es in den Zeitungen stand, ein ehemaliger Polizist). Dieses tragische Ereignis hat sich für immer meinem Gedächtnis eingeprägt, und während ich 'An den Oktober' komponierte, sah ich diese Bilder wieder ganz deutlich vor mir, und ich widmete ihnen eine Episode vor dem Einsatz des Chores.

    Dieses Motiv erfährt zwischen den beiden Chorteilen drei weitere Abwandlungen. Es wird in der vierten Sinfonie wieder eingesetzt und dreissig Jahre später in seiner 12. Sinfonie, wenn Schostakowitsch im Zusammenhang mit dem 90. Geburtstag von Lenin wieder an die Siebzehner-Revolution erinnert.

    Erst viel später hat mich Krzysztof Meyer darauf aufmerksam gemacht, dass das d-es-c-h-Motiv in dieser zweiten Sinfonie erstmals zum Einsatz kommt. Ob es bewusst gesetzt worden ist, kann nicht belegt werden. Die Vier-Ton-Folge g-as-f-e erscheint im ersten Chorteil zum Ausruf «O, Lenin!». Wenn man diese um eine Quinte erhöht, kann sie als d-es-c-h [4] gelesen werden. Auffällig, dass sie ausgerechnet mit Lenin in Verbindung steht, wenn die Worte No gromche orudiy vorvalis’ v molchan’ye slova nashey skorbi. O Lenin! gesungen werden (Da brachen die Worte unserer Trauer in die Stille ein. O, Lenin!). In deutschen Übersetzungen wird anstelle von «Trauer» oft «Kummer» oder «Qual» verwendet.

    Diese 2. Sinfonie wurde einige Zeit nach ihrer Uraufführung als formalistisch bezeichnet und aus den Konzertprogrammen verbannt.


    [1] Brief vom 12.6.1927 bei Redepenning: Geschichte der russischen und der sowjetischen Musik II/1, Seite 253

    [2] Jakob Knaus: Ein «Happy Birthday» für die Revolution. Neue Zürcher Zeitung, 14.10.2017

    [3] Michael Koball: Pathos und Groteske – Die deutsche Tradition im symphonischen Schaffen von Dmitri Schostakowitsch, Berlin 1997, Seite 70. Wolfram Steinbeck: Zu Schostakowitschs früher Symphonik. Bonner Symposion 2004, Seite 129

    [4] d-es-c-h als persönliches Signet für Dmitri Schostakowitsch hat er selbst in der 10. Sinfonie, im 8. Streichquartett und in weiteren Werken eingesetzt.

  • Wir sind hingegangen, haben um Arbeit und Brot gebeten,
    unsere Herzen haben getragen Schwermut und Last.
    Die Fabrikschornsteine reckten sich zum Himmel
    wie Hände, kraftlos zur Faust geschlossen.

    Furchtbare Schatten lagen über unseren Namen:
    Schweigen, Leiden, Unterdrückung.
    Aber starke Geschütze verwandelten durch Stille
    die Worte unserer Betrübnis, die Worte unserer Qual.

    O Lenin! Du hast unseren Willen zum Leiden geschürt.
    Du hast den Willen der schwieligen Hände geweckt.
    Wir haben es verstanden; Lenin –
    unser Schicksal trägt den Namen Kampf.

    Kampf! Du hast uns zur letzten Schlacht geführt.
    Kampf! Du hast uns den Sieg der Arbeit gegeben.
    Diese Siege über das Joch und die Finsternis
    wird uns keiner jemals wieder nehmen.

    Und jeder soll im Kampf jung und tapfer sein:
    Denn der Name des Siegers heisst: Oktober!
    Oktober! – das ist die Sonne, der erhoffte Bote.
    Oktober! – das ist der Wille des erwachenden Jahrhunderts.
    Oktober! – das ist Freude, Arbeit und Lied.
    Oktober! – das ist Glück für alle.
    (gesprochen)
    Er ist Fahne und Name für lebende Generationen:
    Oktober, Kommune und Lenin.

in einem Satz — Largo, mit Chor

Auftragskomposition zum 10.Jahrestag der Revolution 1917
Dauer: 16 min

Anna Meyer

Genauso Grafik ist das Studio von Anna Meyer. Bei mir steht der Mensch im Mittelpunkt. Ich lege Wert auf individuelle Auftritte, klare Kommunikationskonzepte und zeitgemässes Webdesign.

Meine Stärken liegen im konzeptionellen, verständlichen und zielorientierten Gestalten, im Projektmanagement und in der Kommunikation mit Menschen. Seit 2010 führe ich mein Atelier im Herzen von Zürich.

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