Sinfonie Nr.13
«Babi Jar» heisst die Stelle bei Kiew, wo an zwei Tagen im September 1941 von der deutschen Wehrmacht und SS-Soldaten über 30'000 Juden erschossen und in der Schlucht von «Babyn Jar» mit Erde überschüttet wurden.
Einleitung
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Ein Gedicht eines jungen russischen Dichters hat diese letzten Endes fünfsätzige Vokal-Sinfonie ausgelöst: «Es steht kein Denkmal über Babi Jar. Die steile Schlucht mahnt uns als stummes Zeichen». Ein damals verschwiegenes Ereignis ist durch diese Worte publik geworden und Schostakowitsch hat sie vertont, noch bevor er beim Autor die Einwilligung eingeholt hatte. Das Massaker von Babi Jar bei Kiew im September 1942 ist erst durch diese Musik weltbekannt geworden. Und weitere vier vertonte Gedichte haben tabuisierte Bereiche der Sowjetwirklichkeit offengelegt: Humor, Warteschlangen vor den Einkaufsläden, Ängste und die Karriere werden hier von Bassstimme und Chor vorgetragen: Trauer, Hohngelächter, Monotonie, Aggression und Leerformeln - und Resignation mit dem «morendo»-Schluss.
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Die rein instrumentalen Partien sind in den Sätzen 1, 2 und 5 hervorgehoben
«Babi Jar» heisst die Stelle bei Kiew, wo an zwei Tagen im September 1941 von der deutschen Wehrmacht und SS-Soldaten über 30'000 Juden erschossen und in der Schlucht von «Babyn Jar» mit Erde überschüttet wurden. Anschliessend wurden noch Kriegsgefangene, Zigeuner und Widerstandskämpfer hingerichtet und dort verscharrt. Das Ereignis wurde nicht nur von deutscher Seite verschwiegen; auch die offizielle Sowjetunion hielt sich still oder sprach nur von sowjetischen Opfern. Denn bei dem in Stalins Herrschaftszeit stark aufgekommenen Antisemitismus hätte es bei Gedenkveranstaltungen zu Argumentationsschwierigkeiten geführt.
1961 hat der junge Dichter Jewgeni Jewtuschenko sein Gedicht «Babi Jar» in einer öffentlichen Lesung im Polytechnischen Museum in Moskau vorgetragen und damit das Tabu gebrochen. Als Schostakowitsch davon erfahren hatte, war er vom Text derart angetan, dass er ihn gleich vertonte und erst dann den Dichter um die Erlaubnis bat, es vertonen zu dürfen. Nach der spontanen Zustimmung des Dichters konnte er ihm gleich das Stück vorspielen. Nikita Chruschtschov war es gewesen, der die Publikation des Textes im September 1961 erlaubt hatte; auch billigte er ein Jahr später die Veröffentlichung von Alexander Solschenizyns Erzählung «Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch». Jetzt aber begannen die Schwierigkeiten mit der 13. Sinfonie. Der Dirigent Jewgeni Mrawinski, der schon fünf der Schostakowitsch-Sinfonien uraufgeführt hatte, zog sich zurück, der Bassist Wiktor Netschipailo weigerte sich, weiter zu proben. Und doch konnte das Werk dann unter Kirill Kondraschin und dem Bassisten Witali Gromadsky am 18. Dezember 1962 in Moskau uraufgeführt werden, auch Jewgeni Jewtuschenko hatte noch einen Zusatzvers eingefügt (im Text rot hervorgehoben), spätere Ergänzungen übernahm Schostakowitsch nicht. [1]
Dieser erste Satz ist ein Trauergesang, dem das mehrfach eingesetzte Gewaltmotiv (G) die Härte und Unerbittlichkeit der Anklage gegen jeglichen Antisemitismus verleiht; auffällig dabei, dass dieses Motiv den Texten unterlegt ist und in den instrumentalen Abschnitten nicht verwendet wird. Dort ist es im ersten Takt ein unscheinbar aufsteigendes Vierton-Motiv der Blechbläser (4), das sich gegen Satzschluss in geschärfter Form als schneidende fff-Triole aufdrängt: das Denkmal ist jetzt trotz aller Widerstände geschaffen, zumindest musikalisch.
Der zweite Satz mit dem Titel «Humor» – oder noch treffsicherer «Der Witz» - bietet den krassesten Gegensatz in Gestik, ironisch-grotesker Angriffigkeit und verhaltenem Hohngelächter. Hier hat Schostakowitsch den adäquaten Einsatz gefunden für die vor zwanzig Jahren formulierte auftrumpfende Geste. Für MacPhersons Gang zum Galgen erscheint sie wie massgeschneidert. Sie hat sich somit von der vierten Sinfonie an, wo sie erstmals eingesetzt worden war, bis zur dreizehnten in zahlreichen Varianten bewährt. Immer mit dem aufklingenden Trotz und der augenzwinkernden Schlusswendung, manchmal kurz angebunden, ein andermal umständlich verlängert. [2]
Der Humor hatte im sozialistischen Realismus kaum eine Chance, nicht als verbotene Kritik am System betrachtet zu werden. Dass Schostakowitsch ausgerechnet ihn der tieftraurigen Erinnerung an die Tausenden von Toten von Babi Jar als Kontrast entgegenstellte, zeigt seine nach Stalins Tod teilweise wiedererlangte Kritikmöglichkeit am System, denn beides, Tod und Humor waren Themen, die für die Propagierung der besten aller Welten nicht brauchbar waren.
Schostakowitsch hatte zwar seine «Sechs Romanzen nach englischen Dichtungen für Bass und Klavier» op. 62, aus deren Nummer drei das «MacPherson-Thema» stammt, 1942 komponiert, hat diese Geste schon 1936 in seiner vierten Sinfonie eingesetzt und sie mehrfach variiert und in den Sinfonie 5, 6 und 7 weiterverwendet. Und dann, als er 1942 dieses englische Gedicht «MacPhersons Farewell» von Thomas Burns zu Gesicht bekam, hat er wohl rasch erkannt, dass diese Geste genau zum Eröffnungsvers passte, stimmungsgerecht und treffsicher. Wie ein MacPherson mag er sich manchmal selbst begriffen haben, als er nach dem Totalverriss seiner zweiten Oper im Jahr 1936 geächtet und als Volksfeind bezeichnet worden war. Die vierte Sinfonie hatte er vor der ersten Aufführung zurückgezogen und mit der fünften hatte er sich zwar einigermassen rehabilitiert, aber einiges darin musikalisch ausgedrückt, was erneut zu Schwierigkeiten hätte führen können, wenn es entdeckt worden wäre.
Der dritte Satz, «Im Laden», beschreibt die realistische Stellung der Frau im Sowjetsystem: offiziell zwar völlig gleichberechtigt, in der Realität oft schwer belastet durch Arbeiten, welche dem Mann nicht zugemutet werden können, weil er entweder eine höhere Charge bekleidet oder besoffen und unfähig ist, in den Warteschlangen den täglichen Einkauf zu besorgen. Kastagnetten, Holzblock und trockene Klavier-Akkorde begleiten streckenweise die monoton geführte Solostimme im piano und den einstimmigen Chor: Ob es galt zu betonieren, zu bepflanzen, zu planieren. Alles haben sie ertragen, alles haben sie geschafft.
Im letzten Viertel des zwölf Minuten dauernden Satzes kommt das Aufbegehren: Schändlich ist’s, sie zu betrügen! mit mehrfachem Gewaltmotiv und Steigerung bis zum vierfachen Forte. Dann zurück ins Pianissimo und ohne Unterbruch in den vierten Satz, der ein weiteres Tabu berührt. Im realen Sozialismus braucht der Mensch keine Angst zu haben: Die Ängste in Russland sind tot, wie Phantome aus alter Zeit, alten Frauen gleich, die vor Kirchen erbetteln ihr Brot, singt der Bassist, unterlegt von einem Paukenwirbel. Das Solo der Basstuba prägt zu Beginn den Satz Einst erlebten wir alle Schrecken, der später von der Solostimme gesungen wird. Zweimal entlädt sich die Spannung, im Zentrum mit einer neuen Variante des Gewaltmotivs und im kurzen Allegroteil, wenn die Angst sich bis in den Freundeskreis einnistet.
Was die 95 Takte umfassende Einleitung zum fünften Satz mit dem Titel «Karriere» soll, wird erst klar, wenn man die zwei letzten Zeilen des Gedichts von Jewtuschenko liest, das Schostakowitsch selber ausgewählt hat: Ich kann mir Karriere leisten, grad weil ich nichts dafür getan. Der Chor quittiert viermal die Aussagen der Solostimme mit der gleichen Leerformel, plappert also einfach nach und versteht soviel wie nichts, worauf der fragende Künstler hinauswill. Die erste Verszeile hat eine Tonfolge gesetzt, welche bei gewichtigen Aussagen erscheint und auch als Fugato verwendet wird. Überraschend wirkt die ausgedehnte pizzicato-gezupfte Streicher-Serenade. Da von der Karriere des Galilei die Rede ist, könnte Schostakowitsch an dessen Bruder gedacht haben, der ein berühmter Lautenspieler und Komponist gewesen war. Auch die Karriere von anderen Berühmtheiten wird erwähnt, eingeschlossen die eigene. Deshalb wohl wählte er eine konturarme lange Einleitung, die in der Schlusspassage wieder erscheint. Diese eher langweilig wirkende Pendelfigur wird von der Celesta mit dem Fugato-Motiv abgelöst und erlischt in der Höhe schwebend.
Zwei Hinweise
> Der dokumentarische Roman aus dem Jahr 1968 von Anatoli Kusnezow gibt einen detaillierten Einblick in die Vorgänge, allerdings aus der Sicht eines damals 14-jährigen Knaben. BABI JAR, Ue aus dem Russischen von Larissa Robiné, im Diogenes Verlag Zürich 1968, 355 Seiten.> Krzysztof Meyer: Schostakowitsch, Schott 1995/2006, behandelt die 13. Sinfonie auf den Seiten 409–420
[1] Galina Wischnewskaja: Erinnerungen einer Primadonna. Piper-Schott Mainz 1993, Seite 263–269
[2] Jakob Knaus: Die «gestische Metamorphose» der MacPherson-Tonfolge. > Beilage zur 4. Sinfonie
Satz 1 — «Babi Jar»
Adagio. Allegretto (Text von Jewgeni Jewtuschenko)
Dauer: 16 min
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Text: Jewgeni Jewtuschenko
(dt. Text von Jörg Morgener – Sikorski-Partitur 2207)Orchester
Chor:
Es steht kein Denkmal über Babi Jar.
Die steile Schlucht mahnt uns als stummes Zeichen.
Die Angst wächst in mir. Es scheint mein Leben gar
bis zur Geburt des Judenvolks zu reichen.Bass:
Mir ist, als wenn ich selbst ein Jude bin,
verlass Ägyptens Land in Todesnöten.
Gekreuzigt spüre ich, wie sie mich töten,
aus Nägelmalen rinnt mein Blut dahin.Jetzt bin ich Dreyfus, trage sein Gesicht.
Die Spiesser, meine Kläger, mein Gericht.
Rings seh’ ich Gitter, Feinde dicht bei dicht.
Muss niederknien, hart angeschrien und angespien.
Und feine Dämchen ganz in Brüssler Spitzenfähnchen
stechen mir mit Schirmen ins Gesicht.
Jetzt seh’ ich mich in Bialystok als Junge.Chor:
Blut, Blut bedeckt den Boden rings umher.
Es gröhlt betrunknes Volk mit schwerer Zunge,
nach Wodka und nach Zwiebeln stinkt es sehr.Bass:
Hart treten Stiefel mich, wie alles Schwache,
am Boden liegend lässt man mich im Stich.Chor:
«Schlagt tot die Juden! Vaterland erwache!»
Ein reicher Händler schändet, Mutter, dich!Bass:
O Russland, du mein Volk, getreulich denkst du
international in deinem Handeln.
Doch ehrfurchtslose Frevler suchen längst
die Reinheit deines Namens zu verschandeln.
Ich weiss auch um die Güte hierzuland,
doch kürzlich, keiner wagt es zu verbieten,
hat einer Schar Antisemiten sich höhnischBass und Chor:
«Bund des Russenvolks» genannt!
Orchester
Bass:
Jetzt scheint es mir: ich selbst bin Anne Frank,
ein knospenzarter Zweig im Frühlingswehen.
Ich liebe nur. Was braucht es Worte bang,
wenn ich nur weiss, dass Menschen sich verstehen.
Wie wenig Licht und Luft hier im Quartier!
Kein grünes Blatt, der Himmel ist verhangen.
Doch eines bleibt: Wir können es umfangen
voll Zärtlichkeit im dunklen Zimmer hier.Chor: p
«Wer kommt herauf?»Bass:
«Sei furchtlos, nur das Rauschen des Windes ruft:
der Frühling naht, sei leis, komm her zu mir
und lass uns Küsse tauschen!»Chor:
«Zerschlägt man die Tür?»Bass:
«Nein, es bricht nur das Eis …»Orchester - Adagio fff
Chor: pp
Über Babij Jar rauscht leis das wilde Gras.
Die Bäume blicken streng, wie Richter schauen.
Das Schweigen hier ist Aufschrei ohne Mass.
Mein Haar erbleicht vor namenlosem Grauen.Bass:
Und schweigend bin ich Widerhall des Schreis
von allen, deren Blut man hier vergossen.
Bin selbst der hingemähte Greis.
Bin selbst der Kinder eins, die hier erschossen.
Was hier geschah: Ich kann es nie vergessen!Chor:
Die «Internationale» tönt und gellt,
wenn keine Menschenseele mehr besessen
von Judenfeindschaft hier auf dieser Welt.Bass:
Der Juden Blut fliesst nicht in meinem Blut.
Doch tiefer Hass verfolgt mich bis zum Schlusse:
Für Judenfeinde bin ich wie ein Jud’.Bass und Chor:
Und darum steh’ ich hier als wahrer Russe.(8+9) von Jewtuschenko nachträglich eingefügt, um den Schwierigkeiten zu begegnen
Satz 2 — «Der Witz»
Allegretto
Dauer: 8 Minuten
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Text: Jewgeni Jewtuschenko
(dt. Ue: Jörg Morgener- Sikorski-Partitur 2207)Orchester
Bass:
Cäsaren, Regenten und Könige,
die Herren im Rampenlicht,
sie kommandierten nicht wenige,
beim Witz jedoch ging das nicht. (Chor): nicht.
Zu Leuten mit Ruhm und Besitz,
die lebten so hin in Saus und in Braus.Bass und Chor:
Kam einst der Aesop voller Witz:
da sahen sie gleich wie Bettelpack aus.Bass:
Es kriechen, den Blick himmelwärts,
die Heuchler mit schleimiger Schneckenspur.
I:Von Nasredim Hodscha ein Scherz
fegt alle weg wie ‘ne Schachfigur! :I (+Chor)Orchester
Bass:
Man wollte den Witz einfach kaufen.Chor:
Doch so bringt ihn keiner zum Schweigen.Bass:
Man rief: «Knallt den Witz über’n Haufen!»Chor:
Da tät’ er das Hinterteil zeigen.Bass:
Der Kampf mit dem Witz fällt äusserst schwer.
Einst köpften ihn die Strelitzen.Chor:
Und zeigten den blutigen Schädel her
auf ihren Lanzenspitzen.Bass:
Da zogen mit Pauken und Trara
die Gaukler zum Mummenschanz,
gleich rief unser Witz: «Bin wieder da!»:I (+Chor)Bass und Chor:
und schmiss seine Beine im Tanz.Orchester: MacPherson-Thema
Bass:
Im schäbigen Rock, von allen mit Spott
geplagt und ganz verzagt,
ward er als politischer Feind verklagt
und ging nun den Weg zum Schafott.
Voll Demut und Reue der Ärmste schritt
als Sünder dem Jenseits zu.
Doch plötzlich er seinen Lumpen entglitt:
Da war er wegBass und Chor:
im Nu!Bass:
Man steckte den Witz in den Kerker,
zum Teufel, das hat nicht gereicht.Bass und Chor:
Trotz Gitter und Stein: Er war stärker
und schritt hindurch ganz leicht.
Er hustet, und es schmerzen die Rippen,
doch er hat Tritt gefasst,
so stürmt er, ein Lied auf den Lippen,
bewaffnet zum Winterpalast.Bass:
Gewöhnt an die Blicke voller Neid,
die schaden ihm sicherlich nicht,
ist er auch zum Witz über sich bereit:
das gibt dem Witz Gewicht.Bass und Chor:
Er bleibt ewig. Stets wendig. Lebendig.Bass:
Der Witz kommt an alles heran.Bass und Chor:
Hört her: es lebe der Witz!
Der Witz ist ein tapferer Mann.
Satz 3 — «Im Laden»
Adagio
Dauer: 12 min
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Text Jewgeni Jewtuschenko
(dt. Ue Jörg Morgener)Violoncello und Kontrabass
Bass:
Tief vermummt, wie Kampfbrigaden,
stets zur Heldentat bereit,
so betreten sie den Laden:
Frauen schweigen, Seit an Seit.Chor:
Oh, sie klappern mit den Kübeln
mit den leeren Kannen laut,
und es riecht nach Gurken, Zwiebeln,
Räucherfisch und Bohnenkraut.Bass:
Frierend stehe ich schon lange,
bis zur Kasse hat man’s schwer.
In der dichten Menschenschlange
wird es wärmer um mich her.Bass und Chor:
Frauen warten ohne Ende,
freundlich ist ihr Haus bestellt,
und es halten ihre Hände
stumm das schwerverdiente Geld.Bass:
Russlands Frauen, die sich plagen,
für ihr Land mit aller Kraft.
Ob es galt, zu betonieren,
zu bepflanzen, zu planieren:Bass und Chor:
Alles haben sie ertragen,
alles haben sie geschafft.Bass:
Unser Schicksal lastet lange schon
auf den Frauen, die in harter Fron.Bass und Chor:
Schändlich ist’s, sie zu betrügen,
falsch zu wiegen, welch ein Hohn!Bass:
Ich bezahle Mehl und Flaschen,
sehe noch im Lampenschein
die vom Tragen ihrer Taschen
müden Hände, gut und rein. (Chor-Akkorde)Violoncello und Kontrabass
Satz 4 — «Ängste»
Largo
Dauer: 13 min
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(dt. Ue Jörg Morgener)Tuba, Pauke, grosse Trommel
Chor:
Die Ängste in Russland sind tot,
wie Phantome aus alter Zeit,
alten Frauen gleich im grauen Kleid,
die vor Kirchen erbetteln ihr Brot.Bass:
Einst erlebten wir alle mit Schrecken
die Triumphe der Lügenbagage.
Ängste lauerten rings in den Ecken
und verschonten nicht eine Etage,zähmten die Menschen mit hämischer Fratze,
drückten allem ihr Siegel auf,
lehrten schreien, wo Schweigen am Platze,
für den Schrei nahm man Schweigen in Kauf.Fern die Ängste, die wir einmal kannten,
seltsam scheint die Erinnerung mir:
jene Angst vor dem Denunzianten
oder Angst, wenn es klopft an der Tür.Auch die Ängste, mit Fremden zu sprechen
oder gar mit der eigenen Frau.
Ängste, die das Vertrauen zerbrechen
nach dem Wandern zu zweit durch das Grau.Chor:
Mutig sah man im Schneesturm uns bauen.
Trotz Beschuss ging es furchtlos zur Schlacht.
Doch wir fürchteten sehr zu vertrauen,
kein Gespräch ohne Angst und Verdacht.
Doch dies alles warf uns nicht nieder,
und weil du deine Ängste bezwangst,
überkam, o mein Russland, nun wieder
deine Feinde die grosse Angst.Bass:
Neue Ängste sich drohend erheben:
Angst, nicht ehrlich zu dienen dem Land,
Angst, bewusst die Idee aufzugeben,
die schon morgen als Wahrheit erkannt,
Angst, sich masslos zu überschätzen,
Angst, auf Worte des andern zu baun,
Angst, durch Argwohn den Freund zu verletzen,
nur sich selbst völlig blind zuvertraun.Chor:
Die Ängste in Russland sind tot …Bass:
Und wie ich diese Zeilen hier schreibe,
noch im Banne von Worten und Klang,
fühle ich, eine Angst wird mir bleiben:
ob mir hier auch das Beste gelang.
Satz 5 — «Karriere»
Allegretto
Dauer: 15 min
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(dt. Ue Jörg Morgener)
Orchester
Bass:
Die Priester lehrten, dass verblendet
der Galilei in seinem Wahn,Chor:
der Galilei in seinem Wahn.Bass:
Erst als sein Leben war beendet,Bass und Chor:
begriff man recht, was er getan.Bass:
Ein Wissenschaftler jener Zeit,Bass und Chor:
er war wie Galilei gescheit,Bass:
fand auch, dass sich die Erde dreht.Bass und Chor:
Er hat Familie, ihr versteht.Bass:
Sich selbst zum Ruhm, der Frau zur Ehre,
begeht er Hochverrat wie nie und denkt:
so mach ich Karriere,Bass und Chor:
doch in der Tat zerstört er sie.Bass:
Planetenbahnen zu verstehen,
hat Galilei gewagt. Ihr wisst,Bass und Chor:
er wurde weltberühmt.Bass:
Wir sehen:Bass und Chor:
er war ein rechter Karrierist!Orchester: Zwischenspiel pizzicato
Chor:
Lasst laut mich preisen die Karriere,
die ich bei grossen Männern treff’:
Pasteur und Shakespeare gebt die Ehre,
auch Newton und Tolstoi, und Tolstoi.Bass: Lew?
Bass und Chor: Lew!
Warum man sie mit Dreck beschmierte?
Talent trotzt jeder Diffamie.Bass:
Vergessen, wer sie diffamierte,Chor:
doch die es traf, vergisst man nie.Orchester: Fugato
Bass:
Eroberer der Stratosphäre,
ihr Ärzte, an der Pest krepiert,
ihr seid die Helden der Karriere,Bass und Chor:
ihr habt mir meinen Weg markiert.Bass:
Ich glaube eurem wahren Glauben,
und euer Vorbild bricht mir Bahn.
Ich kann Karriere mir erlauben,
grad weil ich nichts dafür getan.Nachspiel:
Bassklarinette, Streicher, CelestaDer Chor repetiert meistens die Worte der Solostimme – er plappert also nach.