Sinfonie Nr.12

op. 112
«Das Jahr 1917»

UA 1961 Leningrad
Spezielle Besetzung: 23 Bläser
4 Sätze: Revolutionäres PetrogradRasliw«Aurora»Morgenröte der Menschheit

Zum 90. Geburtstag von Lenin am 20. April 1960 hätte diese Sinfonie komponiert werden sollen, aber «das Material widersetzte sich». Stattdessen besann er sich auf sein eigenes Material…

Einleitung

  • Zum 90. Geburtstag von Lenin am 20. April 1960 hätte diese Sinfonie komponiert werden sollen, aber «das Material widersetzte sich». Stattdessen besann er sich auf sein eigenes Material, entnahm ein Motiv seinem eigenen «Trauermarsch für die Opfer der Revolution 1917», den er mit elf Jahren geschrieben hatte, zitierte aus seinem Lied «Der neunte Januar» und aus seinen «Satiren». Dann gelang es ihm auch, das «Happy Birthday» zu verstecken und es zum Händelschen «Halleluja» aufzupeppen. Dazu hat er all dies satzübergreifend und gut verfolgbar verteilt. Zugegeben: Es ist die schwächste von seinen fünfzehn Sinfonien; aber er wollte zugunsten von Lenin keine allzugute Sinfonie schreiben.

  • Die 12. Sinfonie Schostakowitschs war im Jahr 1960 als Komposition zu Lenins 90. Geburtstag von der Obrigkeit erwartet worden. Merkwürdig aber, dass das Hauptthema vorzeitig abbricht und das einzige durchgehende und sogar satzübergreifende Thema seinem eigenen Erleben gilt. Mit dem Zitat aus seinem «Trauermarsch für die Opfer der Revolution 1917», den er als 11-Jähriger komponiert hatte, wird der Bezug im ersten Satz schon hergestellt und mit einem zweiten Zitat im vierten Satz verstärkt: Als die Oktoberrevolution ausbrach, war ich ebenfalls auf der Strasse, und vor meinen Augen wurde ein kleiner Junge erschossen (der Schütze war, wie es in den Zeitungen stand, ein ehemaliger Polizist). Dieses tragische Ereignis hat sich für immer meinem Gedächtnis eingeprägt, und während ich 'An den Oktober' komponierte, sah ich diese Bilder wieder ganz deutlich vor mir, und ich widmete ihnen eine Episode vor dem Einsatz des Chores. Diese «Episode» in der zweiten Sinfonie verwendet er im Finalsatz der zwölften nochmals; also keine Hommage à Lenin, sondern eine emotionale Anklage!

    Das 12-taktige Eröffnungsthema des ersten Satzes (U) verläuft einstimmig und wird deshalb in der Fachpresse oft als «Thema im Unisono» bezeichnet.[1] Es wird trotz der Steigerung an einem banalen Motiv aufgehängt und endet mit einem abrupten Abbruch. Auch die gut kaschierte Variante mit noch grösserer Steigerung wird mit dem aus früheren Sinfonien bekannten Gewaltmotiv (G) abgebrochen und zerbröselt im piano-Pizzicato. Das 8-taktige zweite Thema (T), wiederum einstimmig angesetzt, entwickelt sich zu einem mehrstimmigen liedartigen Komplex, der zu einer Hymne werden könnte. Ein abrupter Wechsel lässt ihn aber aggressiv werden, und eine unscheinbare punktierte Figur aus dem zweiten Teil artikuliert sich ebenfalls aggressiver und lässt das «Halleluja» aus Händels «Messias» (H) anklingen. Beim ersten Erklingen ist die punktierte Figur nichts anderes als die vier Töne des «Happy Birthday» (HB), das Schostakowitsch schon in seiner zweiten Sinfonie so gut versteckt hatte, dass es erst 1994 entdeckt worden ist. Dass er dann mehr als dreissig Jahre später die Egalität von «Happy Birthday» und «Halleluja» aufdeckte, ist ein toller Fund von Schostakowitschs noch immer intakter Zitierlaune.

    Der zweite Satz ist mit «Rasliw» überschrieben und bezeichnet den Ort, wo sich Lenin im Juli/August 1917 versteckt hatte, um den richtigen Einsatz abzuwarten. Der ganze Satz ist mit drei Zitaten aus eigenen Werken durchsetzt, dem Trauermarsch-Zitat (T), dem Zitat aus dem Lied «Der 9. Januar» (E) aus op. 88/6 [2] und dem Methusalem-Zitat (M) aus dem dritten Lied der «Satiren op. 109». In der Satzmitte werden die ersten beiden Zitate kombiniert. Die «Satiren op. 109» hatte er kurz zuvor komponiert und auf Anraten der Sängerin Galina Wischnevskaja unter dem Titel «Bilder der Vergangenheit» publiziert, um bei der Kulturbehörde mit dem Wort «Satiren» kein Aufsehen zu erregen. Das war eine Art «Feigenblatt, mit dem wir die anstössigen Teile bedecken». [3] Im zitierten Lied war das Morgenrot als wünschbares Ziel des neuen Menschen thematisiert. Da dies aber noch nicht so rasch realisiert wird, stellt sich die Frage: «In zweihundert Jahren?» Und die Antwort ist: «Hört mal! Bin ich denn Methusalem?» Auffällig ist, dass Schostakowitsch das Tam-tam, das er in den Sinfonien bisher meist als Moment der schlimmstmöglichen Wendung eingesetzt hat, hier äusserst zurückhaltend verwendet – im piano, in den Sätzen eins und vier aber im Fortissimo.

    Das Morgenrot wird ja im dritten Satz, der mit «Aurora» überschrieben ist, thematisiert. Zwei Drittel des Satzes laufen im Piano-Bereich ab, wobei das Trauermarsch-Thema in Posaunen und Basstuba pianissimo anhebt (T 97) und durch Hörner und Trompeten verstärkt im attacca-Übergang zum vierten Satz kulminiert und ihn mit dem fff-Einsatz des Tam-tams eröffnet. Die Schluss-Steigerung wird mit dem ins «Grandioso» veränderten Trauermarsch-Zitat bestritten und endet auf einem gehaltenen D-Dur-Akkord mit 13 ins vielfache Forte gesteigerten Paukenschlägen. Dies erinnert an den Abschluss der fünften Sinfonie mit dem unter Peitschenhieben entlockten Jubel der Volksmenge. Ausser dem Trauermarsch-Zitat treffen wir auch auf die schon erwähnte absteigende Tonfolge, welche Koball als «Jugenderlebnis»-Motiv (J) bezeichnet hat, das mit dem Tod des Knaben in Verbindung steht.

    Wo bleibt die Huldigung an Lenin?

    Ich bin selbst Zeuge der Ereignisse der Oktoberrevolution gewesen. Ich war einer von jenen, die Wladimir Iljitsch am Tage seiner Ankunft auf dem Platz vor dem Finnischen Bahnhof hörten. Und obgleich ich damals sehr jung war, hat sich dies unauslöschlich in meinem Gedächtnis eingeprägt. Meine Erinnerungen an jene unvergesslichen Tage helfen mir natürlich bei dieser Arbeit.

    Dies kann man im Vorwort zur Partitur lesen. Es gibt genügend bisher bekannt gewordene Aussagen Schostakowitschs, die belegen, dass er Lenins Untaten seiner Revolutionsjahre bis zu dessen Tod 1924 nicht beschönigen wollte, dass er lieber nichts sagte. Schon als 17-Jähriger hatte er in einem Brief an Tatjana Gliwenko mit «Saint Leninburg» gewitzelt.[4] Krzysztof Meyer zitiert die Aussage des Cellisten Mstislav Rostropowitsch:

    Allein sein Gewissen liess es nicht zu, diese Werke so gut zu schreiben, dass sie in die Geschichte eingehen.[5]

    In «Zeugenaussage» zitiert Solomon Volkow die Aussage Schostakowitschs zu dieser 12. Sinfonie:

    Ich hatte mir eine bestimmte schöpferische Aufgabe gestellt - ein Porträt Lenins – und endete mit einem völlig anderen Ergebnis. Ich hatte meine Idee nicht realisieren können. Das Material widersetzte sich.[6]

    Sie wird als seine «schwächste Sinfonie» bezeichnet. Dem würde Schostakowitsch selbst nicht widersprechen; er wollte keine allzu gute Sinfonie zum 90. Geburtstag von Lenin komponieren.


    [1] Erstmals im CD-Booklet ARTS 47705-8 zur Aufnahme von 2005 mit dem Orchestra Sinfonico di Milano, Dirigent: Oleg Caetani; Text von Luca Chierici (engl.) deutsch von Timothy Alan Shaw, der «unison theme» mit «Thema im Unisono» übersetzt hat.

    [2] Dieses revolutionäre Lied hat Schostakowitsch schon im zweiten Satz der 11. Sinfonie verwendet. Dort war der «Blutsonntag» des 9. Januar 1905 auch richtig platziert. Hier wollte er wohl nochmals an die Vorbedingungen für die Siebzehner Vorgänge erinnern.

    [3] Galina Wischnewskaja: Galina – Erinnerungen einer Primadonna, Piper-Schott, München 1993, S. 259

    [4] Bernd Feuchtner: Scherzo, Ironie, Satire und tiefere Bedeutung, in Schostakowitsch + die beiden Avantgarden des 20. Jh, woke-Verlag, 2019, 88

    [5] Krzysztof Meyer: Schostakowitsch, Schott, Mainz 2008, S. 399 (diese Werke > Das Lied von den Wäldern und die 12. Sinfonie)

    [6] Solomon Volkow: Zeugenaussage, Albrecht Knaus-Verlag, Hamburg 1979, S. 162

Satz 1 — «Das revolutionäre Petrograd»

Moderato. Allegro
(mit Happy Birthday und Halleluja)
Dauer: 14 min


Satz 2 — «RaSliw»

Allegro
mit Eigenzitaten
Dauer: 8 min


Satz 3 — «Aurora»

L’istesso tempo
mit Eigenzitaten
Dauer: 4 min


Satz 4 — «Morgenröte der Menschheit»

L’istesso tempo
mit Eigenzitaten
Dauer: 10 min


Sätze 1—4 — «Das Jahr 1917»

Dauer: 41 min

Anna Meyer

Genauso Grafik ist das Studio von Anna Meyer. Bei mir steht der Mensch im Mittelpunkt. Ich lege Wert auf individuelle Auftritte, klare Kommunikationskonzepte und zeitgemässes Webdesign.

Meine Stärken liegen im konzeptionellen, verständlichen und zielorientierten Gestalten, im Projektmanagement und in der Kommunikation mit Menschen. Seit 2010 führe ich mein Atelier im Herzen von Zürich.

https://www.genauso.ch
Zurück
Zurück

Sinfonie Nr.11

Weiter
Weiter

Sinfonie Nr.13