Sinfonie Nr.11
op. 103 — «Das Jahr 1905»
UA 1957 Moskau
spezielle Besetzung: 23 Bläser, Timpani, Triangel, 2-4 Harfen, Xylofon, Celesta, Tamtam
4 Sätze: Platz vor dem Palast (Adagio) — Der 9. Januar (Allegro) — In memoriam (Adagio) — Sturmgeläut (Allegro non troppo)
Die 11. Sinfonie ist auf den 40. Jahrestag der Oktoberrevolution von 1917 ausgerichtet und sollte bei den entsprechenden Feierlichkeiten im Jahr 1957 aufgeführt werden. Deshalb sind einige revolutionäre Lieder eingebaut und gut erkennbar zitiert.
Einleitung
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Wenn wir Schweizer in einem sinfonischen Orchesterwerk das Lied vom «Vreneli ab em Guggisberg» hören würden, kämen bei uns freundliche Heimatgefühle auf. Ganz anders die Russen, wenn sie Schostakowitschs elfte Sinfonie zu hören bekommen. Da werden mehrere für sie bekannte Lieder zitiert, die aber Erinnerungen an Schreckliches hervorrufen: «Entblösst eure Häupter an diesem traurigen Tag» oder «Unsterbliche Opfer, ihr sanket dahin», Feindliche Stürme durchtoben die Luft» und «Wütet nur, Tyrannen, und tobet wie toll». Selbst der Tyrannei Stalins lebend entronnen, wollte Schostakowitsch vier Jahre nach des Tyrannen Tod den doppelten Boden mit den zwischen den Brettern versteckten Botschaften hinter sich lassen und den Mitmenschen die Schrecknisse der fünfundzwanzig Jahre dauernden Leidenszeit auf einfache Weise offenlegen. Der Anklang an den altslawischen Bittgesang «Gospodi pomiluj» soll auch Trost bieten.
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Die Komposition der 11. Sinfonie ist auf den 40. Jahrestag der Oktoberrevolution von 1917 ausgerichtet und sollte bei den entsprechenden Feierlichkeiten im Jahr 1957 aufgeführt werden. Schostakowitsch, der schon als 21-Jähriger in seiner 2. Sinfonie mit dem «Happy Birthday» heimlich den 10. Jahrestag gefeiert hatte, wählte nun das frühere revolutionäre Ereignis, den «Petersburger Blutsonntag» vom 9. Januar 1905, der mit einem fürchterlichen Desaster geendet hatte. Deshalb hat er eine Reihe von revolutionären Liedern, gut erkennbar zitiert, eingebaut und auf formale Gliederung weitgehend verzichtet. Obwohl die vier Sätze Einzeltitel tragen, laufen sie unterbruchlos ab.
Aus den Liedern werden markante Motive oder ganze Strophen verwendet, teilweise weiterverarbeitet und auch untereinander kombiniert. Einige Themen werden satzübergreifend eingesetzt, so auch der Anklang an den kirchlichen Bittgesang «Gospodi pomiluj».
Satz:
Gib acht! (oder: «Hör zu! Das Gewissen der Tyrannen ist schwärzer als die Nacht)
Dunkle Nacht. Nütze die Minuten, doch die Gefängnismauern sind ehern. («Der Gefangene» oder «Der Arrestant»)
Gospodi pomiluj (Herr, erbarm dich)Satz:
He du, Zar, unser Väterchen, so ist das Leben unmöglich! (aus op. 88/6 «Der 9. Januar, Takt 27)
Entblösst eure Häupter an diesem traurigen Tag (aus op. 88/6 «Der 9. Januar», Takt 1)
Gospodi pomilujSatz:
Unsterbliche Opfer, ihr sanket dahin: Wir stehen und weinen voll Schmerz, Herz und Sinn
Sei gegrüsst, der Freiheit ungezwungenes Wort
Entblösst eure HäupterSatz:
Wütet nur, Tyrannen und tobet wie toll. Nährt Spitzel und steckt die Gefängnisse voll!
Warschawjanka: Feindliche Stürme durchtoben die Luft, drohende Wolken verdunkeln das Licht.
Vorwärts Genossen, im Gleichschritt! Gleiche Melodie wie «Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!»
He du, Zar
Entblösst eure Häupter
Im ersten Satz treffen wir in den 54 Anfangstakten vier verschiedene Tonfolgen an: Eine träge Streicher-Melodie (1), eine Triolenkette mit Pauke (2), und eine Fanfare (3) mit einem integrierten Klagemotiv (4). Daran schliessen drei Lieder: Der geistliche Bittgesang und zwei Revolutions-Lieder mit düsteren Texten, das eine ein zweistimmiger Gesang mit dem Titel «Gib acht!» (oder «Hör zu»), das andere die erste Strophe des Gefangenen-Liedes «Dunkle Nacht». Das ergibt eine eigenwillige formale Gliederung mit wiederholter Abfolge von 1 bis 4 als Exposition, dem «Gospodi pomiluj» und dem ersten Revolutionslied als Übergang zu einer Art von Durchführung und einer verkürzten Reprise. Die träge Streicher-Melodie, pianissimo und mit Dämpfer gespielt, kann als erstes Thema betrachtet werden, ein zweites Thema gibt es nicht. Die Tonfolgen 2-4 werden als gut erkennbare Motive eingesetzt, das «Gospodi pomiluj» wird nicht in den Verlauf miteinbezogen, es rundet den ersten Satz ab, indem es direkt an das Klagemotiv anschliesst. Es erklingt auch gegen Schluss des zweiten Satzes in Verbindung mit dem Liedzitat «Gib acht!». Die beiden Revolutionslieder werden in der Durchführung teilweise parallel geführt.
In den Sätzen zwei bis vier erklingen fünf weitere Revolutionslieder, die dem damaligen Publikum als bekannt vorausgesetzt werden konnten.
Deswegen wurde die 11. Sinfonie in der Sowjetunion sofort populär. Im Ausland wurde die «naive Programmatik und die Altertümlichkeit ihrer Ausdrucksmittel» kritisiert. Anscheinend hat aber Schostakowitsch in dieser einsetzenden «Tauwetter»-Situation mit den Liedern der Schreckenszeit an die emotionalen Belastungen der Stalin-Zeit erinnern wollen und konnte damit etwas lockerer die Forderungen des «sozialistischen Realismus» berücksichtigen. Mit diesem engen Bezug zu Liedtexten hat er den Weg zu den Sinfonien 12, 13 und 14 geebnet, wobei die 12. Sinfonie mit ihren Eigenzitaten als Scharnier funktioniert hat.
Der zweite Satz zitiert ebenfalls zwei Lieder, «He du Zar» und «Entblösst eure Häupter», die teilweise gleichzeitig erklingen und aggressiv gesteigert werden. Dann wird der Thema1-Komplex aus dem ersten Satz zweimal eingesetzt und eine nervöse Fuge entfaltet sich bis zu höchster Klangentladung mit Glissandi von Posaunen und Tuba sowie Knallakzenten, die als Schüsse oder Explosionen gehört werden müssen. Der Satz endet mit einer Verschränkung von «Gospodi pomiluj», «Gib acht!», «He du Zar» und Triolenkette im Piano und geht unterbruchlos in den dritten Satz über – die Triolen bleiben auf weiten Strecken im Satz immer hörbar.
Im dritten Satz werden die zwei Lieder «Unsterbliche Opfer» und «Sei gegrüsst Freiheit» umfangreich eingesetzt. Dazwischen erklingt das Lied «Entblösst die Häupter» aus dem zweiten Satz.
Der vierte Satz setzt als einziger Satz im Fortissimo ein, mit dem klar konturierten Revolutionslied «Wütet nur, Tyrannen». Die nachfolgende vergleichbar punktierte Tonfolge ist dessen Variante. Später, nachdem das schon bekannte Klagemotiv erklungen ist, meint man, eine weitere Variante des Revolutionsliedes zu hören, wird aber darin korrigiert, dass es sich hier um die polnische «Arbeiter-Marseillaise» mit dem Titel «Warschawjanka» handle. Denn das Lied war 1831 im Kampf gegen die russische Besatzung gesungen worden. Im Vergleich der beiden Liedmelodien kann man erkennen, dass die erste Variante von Schostakowitsch als Kombination dieser beiden Tonfolgen kreiiert worden sein muss. Die Integration des polnischen Kampfliedes lässt deshalb die Vermutung aufkommen, dass diese Sinfonie nicht nur dem Jahr 1905 galt, sondern auch an das Schicksal seiner polnischen Vorfahren erinnert, die sich am damaligen Freiheitskampf beteiligt hatten und mit der Verbannung nach Sibirien bestraft worden sind. Vom zweiten russischen Lied «Vorwärts Genossen, im Gleichschritt» wird die dritte Verszeile zitiert, die in der deutschen Version die Worte «hell aus dem dunklen Vergangenen» enthält. Der Satzschluss kehrt zu den beiden Zitaten aus op. 88 «Der 9. Januar» zurück, ausserdem zur Exposition aus dem ersten Satz und endet mit dem Klagemotiv, das neunmal fff über der Triolenkette und den Glocken- und Tamtam-Schlägen wiederholt wird.
Vor allem im ersten Satz hat sich das Klopfmotiv der Timpani (Pauken) im Gedächtnis festgesetzt, das beinahe durchgehend zu hören ist. Aber nicht nur hier drängt es sich auf, sondern in allen Sätzen und in unterschiedlicher Intensität: In ganzen Triolenketten bleibt das Klopfmotiv dominant, teilweise wird es auch von der Streichersektion und auch vom ganzen Orchester übernommen. Der Sinfonieschluss kulminiert damit in den letzten 147 Takten, verstärkt durch 41 Schläge des Tamtams und 33 Glockenschlägen, und wirkt dadurch beinah ebenso überdreht wie jener Schluss der 5. Sinfonie, der nach Schostakowitschs eigener Aussage «als Jubel unter der Knute» erklingt. Die Triolenkette markiert womöglich die beinah ununterbrochen auszuhaltende Despotie der Stalinzeit, die auch von Schostakowitsch selbst als kulturell destruktiv und lähmend erlebt wurde und ihn bis zu Selbstmordgedanken getrieben hat.
Ausserdem sind das polnische Lied «Warschawjanka» im vierten Satz und das tschechische «Gospodi pomiluj» in den Sätzen eins und zwei deutliche Zeichen, dass Schostakowitsch ganz bewusst auch anti-sowjetische Elemente miteinbezog: Liberalität mit dem polnischen Freiheitslied und Religiosität mit dem altkirchenslawischen Gesang der Tschechen. Auf diesem Hintergrund kann auch die Aussage akzeptiert werden, dass Schostakowitsch ebenso an den Aufstand in Ungarn 1956 gedacht habe.
Satz 1 — Adagio
«Platz vor dem Palast»
Dauer: 16 min
Satz 2 — Allegro
«Der 9. Januar»
Dauer: 19 min
Satz 3 — Adagio
«In memoriam» (Ewiges Gedenken)
Dauer: 15 min
Satz 4 — Allegro non troppo
«Sturmgeläut»
Dauer: 15 min
Sätze 1—4
«Das Jahr 1905»
mit satzübergreifenden Elementen
Dauer: 65 min
9. Januar 1905: Petersburger «Blutsonntag», Aufmarsch von gegen 100'000 Menschen vor dem Winterpalast; auf Befehl des Zaren Nikolaus II. greift die Armee ein – ca. 200 Tote. In der 11. Sinfonie werden mehrere Revolutionslieder zitierend eingearbeitet.