Sinfonie Nr.6

op. 54

UA 1939 Leningrad
Spezielle Besetzung: 24 Bläser, Harfe, Tamburin, Xylofon, Celesta
3 Sätze: LargoAllegroPresto

Nachdem die 5. Sinfonie mit ihren zwei erkennbaren Sonatensätzen und dem Einschluss von Populärmusik die Forderungen des «sozialistischen Realismus» erfüllt hatte, setzte Schostakowitsch ähnliche Elemente in seiner 6. Sinfonie ein, verfeinerte jedoch den doppelten Boden, den er mit seinem verfremdeten Zitat aus Gustav Mahlers «Fischpredigt» gelegt hatte.

 

Einleitung

  • Ernsthaft beginnt sie, wie eine Sinfonie von Anton Bruckner. Die heroische Geste aber wird rasch durch eine Trillerkette der Holzbläser zu einem Trauermarsch reduziert und dann noch völlig plattgedrückt. Allenfalls hat der im September 1939 beginnende Krieg den Aufschwung abgeblockt. Umso überraschender, dass der zweite Satz mit rollenden und pochenden Sechzehntelfiguren in die Welt der «Fischpredigt» zurückfindet, die in der Vierten und Fünften ihre Botschaft verkündet hat. Auch nichts von Krieg im dritten Satz, sondern Zitate aus der Popularmusik in hurtigem Wechsel von Lehár, Benatzky und Offenbach. Selbst Rossinis Wilhelm Tell ist hier auf den Sechzehntel-Guirlanden vorausgeritten. Totale Verunsicherung aber verursachen die 75 Takte mitt 55 Taktwechseln im Mittelteil mit vagen Konturen, die völlige Orientierungslosigkeit suggerieren. Aber der Schluss in rasendem Tempo von aggressivem Schlagwerk unterfüttert, strotzt vor blechgepanzerter Energie.

  • Nachdem die 5. Sinfonie mit ihren zwei erkennbaren Sonatensätzen und dem Einschluss von Populärmusik die Forderungen des «sozialistischen Realismus» erfüllt hatte, setzte Schostakowitsch ähnliche Elemente in seiner 6. Sinfonie ein, verfeinerte jedoch den doppelten Boden, den er mit seinem verfremdeten Zitat aus Gustav Mahlers «Fischpredigt» gelegt hatte. Er hat aber auch berücksichtigt, dass die heroische Geste in der Musik von Klassik und Romantik als sozialistische Musik akzeptiert werden könnte. Deshalb begann er seine 6. Sinfonie «brucknerisch», mit punktiertem Kopfmotiv, das bedächtig aufsteigt und sich rasch der «variierenden Entwicklung» unterwirft. Mit dem Piccolo wird die Höhe erklommen, aber durch die Pauke mit einem brutalen Abstiegs-Intervall abgeblockt. Damit wird das ernsthaft-heroische Kopfmotiv mit einer abdriftenden Trillerkette zum Trauermarsch-Rhythmusmotiv reduziert. Dieses erweist sich im weiteren Verlauf, wenn die Flöte einsetzt, als Zitat aus Gustav Mahlers «Lied von der Erde». Der zitierte Abschnitt im sechsten Lied mit dem Titel «Abschied» enthält folgenden Text: Es wehet kühl im Schatten meiner Fichten. Ich stehe hier und harre meines Freundes. Ich harre sein zum letzten Lebewohl. Das ist depressiv gedacht, ohne das offen deklarieren zu müssen. Der abschliessende Flötentriller endet «morendo», wird von der Celesta übernommen und legt sich über das plattgedrückte Trauermarsch-Thema des Horns. Die Reprise lässt das Hauptthema nur noch verdämmern.

    Der zweite Satz mit seinen Sechzehntel-Girlanden im 3/8-Takt ruft sofort die Erinnerung an Gustav Mahlers Lied von der Fischpredigt wach. Nur in wenigen von den 532 Takten fehlen die Sechzehntel-Figuren. Und wenn wir genauer auf die ersten Takte achten, erkennen wir sogar die direkte Anspielung auf die Liedzeile «Er geht zu den Flüssen und predigt den Fischen», wie sie Schostakowitsch schon in der 4. und 5. Sinfonie verwendet hat. Toll, die Reprise mit Thema und dessen Spiegelbild! Der ganze Satz hat sich aber völlig eigenständig entwickelt und sich von der Fischpredigt emanzipiert. Dieses Scherzo nähert sich mit seinen rollenden und pochenden Sechzehntel-Figuren einer gefährlichen Verfolgungsjagd, das Spielerische hat sich längst verflüchtigt, wenn die vier Schlagzeuger im dreifachen Forte kurz vor dem Beginn der Reprise einfallen. Diese aber überrascht mit dem kontrapunktierten Thema, das zugleich mit dem Spiegelbild hurtig abläuft und die Spielfiguren versöhnlich ausrollen lässt.

    Im dritten Satz ist sofort das Rhythmus-Muster von Rossinis «Wilhelm Tell»-Ouvertüre zu erkennen – das weckt Freiheitsgelüste. In rasendem Tempo wird es in Rotation gebracht, erhält zusätzlichen Antrieb mit neckischen Vorschlag-Figuren, wechselt «marcatissimo» vom Zweier- in den Dreier-Takt, verhindert aber mit allen Mitteln zum Walzer zu werden. Dann folgt eine 76-Takt-Passage mit 55 Taktwechseln, wo jede rhythmische Orientierung verloren geht, bis der Wilhelm Tell wieder auftaucht und zum tollen Kehraus mit deftigen Zitaten aus der Unterhaltungsmusik von Lehár, Benatzky und Offenbach zurückfindet, angefeuert und durchgepeitscht mit fünf Schlagzeugern: Timpani, Triangel, Tamburin, Becken und grosser Trommel.

    Ein neues Element sind die im zweiten und dritten Satz auffällig abgerissenen Akkorde oder Endnoten einer Phrase. Es sind keine Glissandi, die Töne werden crescendiert und nach oben oder nach unten buchstäblich abgemurkst. Solches hat man schon in der Vierten hören können und später wird es auch in der Achten eingesetzt! Es sind heftige Gesten wie Ausrufe des Schreckens oder noch aggressiver: wie einschlagende Geschosse. Merkwürdige Fremdkörper in diesen beiden Scherzo-Sätzen von quietschfröhlicher Überdrehtheit. [1] Dennoch wollte er demonstrieren, dass er die Lektion gelernt hat: Dem Volk müssen ein paar Bissen vorgeworfen werden, die auch munden. Auf das «weisse Rössl» von Benatzky war schon im zweiten Satz der Fünften angespielt worden und Lehárs «Lustige Witwe» wird in der nächsten Sinfonie anderweitig zitiert. Diesen Spass wollte er sich nicht vermiesen lassen. Aber: Mit einem Trauermarsch und zwei Scherzo-Sätzen kann er die hohen Kultur-Beamten doch nicht zufriedenstellen. Einer schrieb von dreist zur Schau gestellter Geschmacklosigkeit und bezeichnete die Sinfonie wegen des fehlenden ersten Satzes als kopflosen Reiter.

    Die Gelegenheit zum (vorgetäuschten) Kotau vor den Zensoren kam für Schostakowitsch erst mit dem Krieg und der schier endlosen Belagerung seiner Stadt Leningrad, bei seiner siebten Sinfonie.


    [1] Bernd Feuchtner: Not, List und Lust. Schostakowitsch in seinem Jahrhundert. Wolke Verlag Hofheim 2017, Seite 107

Satz 1 — Largo

Dauer: 17 min


Satz 2 — Allegro

mit «Fischpredigt»-Motiv aus Sinfonie 4, Satz 2
Dauer: 6 min


Satz 3 — Presto

Dauer: 7 min


Sätze 1—3

Dauer: 26 min

Anna Meyer

Genauso Grafik ist das Studio von Anna Meyer. Bei mir steht der Mensch im Mittelpunkt. Ich lege Wert auf individuelle Auftritte, klare Kommunikationskonzepte und zeitgemässes Webdesign.

Meine Stärken liegen im konzeptionellen, verständlichen und zielorientierten Gestalten, im Projektmanagement und in der Kommunikation mit Menschen. Seit 2010 führe ich mein Atelier im Herzen von Zürich.

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