Sinfonie Nr.9
op. 70
UA 1945 Moskau
Spezielle Besetzung: 19 Bläser
5 Sätze: Allegro — Moderato — Presto — Largo — Allegretto
Stalin, der «Weiseste der Weisen» war der grosse Sieger im zweiten Weltkrieg und erwartete eine pompöse Siegessinfonie. Schostakowitschs Neunte war alles andere, eine quicklebendige, ironisierende Musik mit saloppen Melodien, aber mit einem fünften Satz und lärmigem Abschluss.
Einleitung
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Im ersten Satz hat er das Zitat des Liedes «Lob des hohen Verstandes» von Gustav Mahler versteckt, wo der Esel entscheidet, dass der Kuckuck besser singe als die Nachtigall. Demnach ist der Esel der «Weiseste der Weisen».
Im zweiten eher trostlosen Satz wird die Vier-Tonfolge «Wir arme Leut» aus der Oper «Wozzeck» von Alban Berg zitiert.
Auch der dritte, der sonst so sorglos daherträllert und in der «Zirkusmusik» den Höhepunkt finden, endet mit diesen vier Tönen.
Der kurze vierte Satz zitiert Wagners «Schicksalsmotiv» und Beethovens Neunte.
Der Schlusssatz wird von der heute als «MacPherson-Thema» bezeichneten Tonfolge eröffnet und durchzogen, welche die Robin-Hood-Gestalt «so unbeschwert, so frohgemut» und furchtlos mit Sang und Klang auf dem Gang zum Galgen begleitet.
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Die neunte Sinfonie ist kurz nach dem Ende des zweiten Weltkriegs entstanden, als man von Schostakowitsch eine triumphale Siegessinfonie erwarten konnte, denn Stalin war ja der grosse Gewinner.
Die siebente Sinfonie hatte den Gräueln der Belagerung der Stadt Leningrad gegolten – aber nicht nur: Auch die Brutalitäten Stalins in den späten dreissiger Jahren waren einkomponiert. Seine achte galt dem Fall von Stalingrad; auch hier kein Siegesjubel, sondern Schreie und Seufzer; das alles war noch zu nah. Eine Neunte von ihm musste etwas Besonderes sein, mit Solisten und Chor in Anlehnung an Beethovens Neunte, aber mit einer Huldigung an den grossen Sieger Stalin, den «Weisesten der Weisen» – wie er auch unterwürfig genannt wurde.
Als die Sinfonie im November 1945 in Moskau uraufgeführt wurde, war die Enttäuschung gross: quicklebendige, teils ironisierende Musik mit saloppen Melodien und Rhythmen: Fünf Sätze, der erste sogar ein regelrecht klassischer Sonatensatz mit wiederholter Exposition, Durchführung und Reprise – wie zu Zeiten Haydns oder Mozarts. Kein Siegesjubel, kein Chor, weder Fanfaren noch blechgepanzertes Grandioso, sondern ein greller und lärmiger Abschluss! «Ich konnte keine Apotheose auf Stalin schreiben, konnte es einfach nicht».
Wirklich nicht? Weshalb hat Schostakowitsch denn einen klassischen Sinfoniesatz an den Anfang gestellt? Doch um die Forderung nach guter Verständlichkeit zu erfüllen, um dem musikalischen Publikum entgegenzukommen. Prokofiev hatte ja schon 1918 eine an Joseph Haydn orientierte Sinfonie komponiert, die «Symphonie classique». Warum sollte Schostakowitsch dies jetzt im Jahr 1945 nicht auch machen dürfen?
Allerdings ist es nicht die Einhaltung des klassischen Bauprinzips, was dem musikalischen Publikum hätte auffallen können, sondern die aufdringlichen Piccolo-Passagen und die mehrfachen Posaunenrufe – immer ist es der gleiche Sprung nach oben, im Ganzen fünfzehn Mal! Was aber sollen diese auftaktigen Quartsprünge? Und sind es nicht auch Kuckucksrufe, welche gegen den Schluss hin ertönen?
Der Quartsprung aufwärts könnte auf ein Volkslied hindeuten, die Kuckucksrufe würden dies unterstützen. Die quirligen Piccolo-Passagen könnten auch stilisierte Vogelrufe darstellen. Etwa Kuckuck und Nachtigall?
Schostakowitsch hat diese beiden Vögel im ersten der vier Monologe nach Balladen von Krylow in Musik gesetzt. Das war sein Opus vier und muss schon früh entstanden sein, etwa 1922, also noch vor seiner ersten Sinfonie. Aber halt: Dort waren es nicht Kuckuck und Nachtigall, sondern dort heisst der Titel «Der Esel und die Nachtigall». Der Esel lobt den virtuosen Gesang der Nachtigall nicht, sondern rät ihr, dem Hahn im Hinterhof zuzuhören, sie könnte noch einiges von ihm dazu lernen. Der Vergleich ist zu gewagt: Hätte Schostakowitsch wirklich Stalin einen Esel nennen wollen?
Nun aber erinnern wir uns noch daran, dass sich Schostakowitsch eingehend mit dem Werk von Gustav Mahler beschäftigt hatte, als sein Freund Iwan Sollertinski ein Buch über Mahler schrieb und ihm dessen Sinfonien nahebrachte. Auch die Wunderhorn-Lieder von Mahler hat Schostakowitsch kennengelernt. Da macht es plötzlich «Klick» und das Lied von Esel, Kuckuck und Nachtigall fällt mir ein, wo der Gesang der beiden Vögel vom Esel beurteilt wird, wer denn besser singe. Der Titel jenes Liedes heisst «Lob des hohen Verstandes».
Da haben wir es: Der «Weiseste der Weisen» ist doch gemeint, und der ist im Wunderhorn-Gedicht der Esel; also doch: Stalin = Esel! Respektlos, unverschämt, also doch ein «Volksfeind», wer diesen Vergleich zieht. Um einen Kopf kürzer wäre der, wenn's von den Zensoren oder von Stalin selbst erkannt worden wäre! [1]
Ist dieser Befund aber auch musikalisch zu untermauern? Versuchen wir es mit dem Liedbeginn:
Einstmal in einem tiefen Tal
Kuckuck und Nachtigall
täten ein Wett' anschlagen.
Zu singen um das Meisterstück,
gewinn es Kunst, gewinn es Glück!Dank soll er davontragen!
Der Kuckuck sprach: "So dir's gefällt,
hab‘ ich den Richter wählt",
und tät gleich den Esel ernennen!Auch hier also ein Gesangswettbewerb, und derjenige, der entscheiden soll, steht gleich auch schon fest. Warum gerade der Esel?
«Weil er hat zwei Ohren gross,
so kann er hören desto bos,
und, was recht ist, erkennen».In Mahlers Lied wird nach diesem Satz die Pauke aktiv und schlägt zweimal einen harten Quartsprung nach oben. In der Sinfonie fällt die Entscheidung dort, wo die Posaune achtmal nach oben schnellt. Dort sagt der Esel, dass der Kuckuck besser singe als die Nachtigall. Mit diesem Resultat liegt der Esel völlig richtig, denn er entspricht damit genau den Anforderungen der Kunstdoktrin im «sozialistischen Realismus»: Der Kuckuck mit seinen zwei Tönen wird vom einfachen Volk sofort verstanden; die Nachtigall hingegen singt und trillert so variantenreich, dass es den Esel ganz konfus macht und nur die Gebildeten dies begreifen können. Die Nachtigall ist damit eine Formalistin, dient dem Klassenfeind und muss verboten werden. Dass der Kuckuck das erste und das letzte «Wort» hat, sieht man in der Grafik deutlich. Und hier doch noch etwas zur Formgestaltung: Die Entscheidung fällt im zweiten Teil der «Durchführung», wo das musikalische Material verarbeitet wird, was ja superkorrekt dem Sinn dieses Formabschnitts entspricht – die Verarbeitung des Materials zielt ja auf eine geschickte Kombination der Themen hin, also auf ein Ergebnis. Die fünfzehnte und letzte Posaunenquarte ertönt im piano gleich zu Beginn der «Reprise», welche sich immer irgendwie auf den Satzanfang zurückbezieht. Der «Weiseste der Weisen» ist also eindeutig der Esel, der die ganze Entscheidungsmacht für sich beansprucht.
Was dies für die Menschen bedeutet, die unter dieser Macht leben müssen, zeigen die folgenden vier Sätze: «Wir arme Leut'» als Zitat aus Alban Bergs Oper «Wozzeck» erklingt im Zentrum des zweiten Satzes. Dort werden zwei lyrischen Melodietypen abwechselnd variiert, der eine verdämmert in tiefer Depression und der andere löst sich chromatisch auf und bleibt zum Schluss am Ton Fis des Piccolos buchstäblich hängen. Mit «morendo» (sterbend) sind die letzten Takte bezeichnet. Auch der frisch-fröhlich startende dritte Satz als Geschwindmarsch mit zirkusreifem Trompetensolo endet mit dem «Arme Leut'»-Zitat und leitet direkt über in den merkwürdig langsamen vierten Satz, der erst aussagekräftig wird, wenn man die zitierte Musik erkennen kann. Das ist aber gar nicht so einfach: Zum ersten ist es nur ein Anklang an einen Abschnitt aus Modest Mussorgskys «Bilder einer Ausstellung», der allerdings den Titel «Katakomben» (unterirdische Grabgewölbe) trägt. Direkt daran schliesst ein Zitat aus Richard Wagners «Ring des Nibelungen» – es handelt sich um die Todesverkündigung der Brünnhilde – und gleich erklingen die sieben Töne von «Freunde, nicht diese Töne» aus Beethovens neunter Sinfonie. Dorothea Redepenning hat in ihrer umfangreichen «Geschichte der russischen und der sowjetischen Musik» (2008) darauf hingewiesen, dass dieses langsame Fagottsolo dreimal so schnell gespielt werden muss, um als Zitat erkannt zu werden. Dennoch wirkt die Fortsetzung des Fagott-Solos nach der zweiten «Katakomben»-Passage wie ein tieftrauriger Klagegesang, der wieder «morendo» absinkt, dann aber völlig überraschend in burlesker Manier in den fünften Satz übergeht, mit einem Motiv, das man schon in den Sinfonien vier bis sieben in irgendeiner Variante angetroffen hat und die dieser neunten Schostakowitsch-Sinfonie noch einen besonderen Dreh gibt, insbesondere nach dieser Todesverkündigung. Das Motiv wird heute allgemein als «MacPherson-Motiv» bezeichnet, das Bernd Feuchtner schon 1986 im Zusammenhang mit Schostakowitschs Opus 62, den «Sechs Romanzen nach englischen Dichtungen» entdeckt hat. Es handelt sich um eine markant aufsteigende Geste, welche zielgerichtet, aber doch mit einer gewissen Eleganz aufwartet und in zahlreichen Varianten von burlesk bis aggressiv erscheinen kann. Die dritte der Romanzen op. 62 ist mit «MacPherson's Farewell» übertitelt und ist um 1941/42 entstanden. MacPherson, eine Art Robin Hood und zum Tode verurteilt, verabschiedet sich auf dem Gang zum Galgen.
Im 5. Satz zeigt sich das Motiv in dieser Form und erinnert sofort an MacPhersons «Galgenhumor» – vgl. den Text «Die gestische Metamorphose der MacPherson-Tonfolge» im Anschluss an die 4. Sinfonie.
Dass sich dieses erste Thema nach fünfmaligem auf-ab und einer als zweites Thema zu bezeichnenden chromatisierenden Karikatur nach und nach totläuft, sich aber nach einer langen Durststrecke zu aggressiver Dominanz aufputschen kann und in einem quirligen Schlussspurt den Satz zum akustischen Tollhaus macht, zeigt dem «Weisesten der Weisen», der im ersten Satz dem Kuckuck den Solistenpreis überreicht hat, eine lange Nase.
Man kann nicht deutlich genug darauf hinweisen, dass alle diese versteckten Anspielungen als Schostakowitschs individuelle Botschaften zu verstehen sind, die in jener Zeit der Stalin-Diktatur aber akute Todesgefahr bedeuten konnten, denn hätte nur einer der Kultur- und Zensur-Beamten solche Dinge erkannt, wäre das Schostakowitschs Ende gewesen. Erst als Stalin gestorben war (5. März 1953), wagte Schostakowitsch ein zweites musikalisches Stalin-Portrait im zweiten Satz seiner 10. Sinfonie und setzte dann seine eigenen Initialen D - S - C - H, wutentbrannt aber auch selbstbewusst von den Pauken gehämmert, an das Ende des Finalsatzes:
[1] Jakob Knaus: Der Weiseste der Weisen – ein Esel? Neue Zürcher Zeitung 29.10.2016
Jakob Knaus: Im 21. Jahrhundert finden wir versteckte Botschaften eher. In: Schostakowitschs Musiksprache – Schostakowitsch-Studien 12, hrg. von Bernd Feuchtner, Wolke Verlag Hofheim 2023, S.129–143