Sinfonie Nr.10

op. 93

UA 1953 Leningrad
spezielle Besetzung: 23 Bläser
4 Sätze:
ModeratoAllegroAllegrettoAndante

Acht Jahre lang hat er nach seiner ungnädig aufgenommenen 9. Sinfonie gewartet, bis er sich überwand und eine zehnte komponierte.Der Grund: Stalin war am 5. März 1953 gestorben.

Einleitung

  • Acht Jahre lang hat er nach seiner ungnädig aufgenommenen 9. Sinfonie gewartet, bis er sich überwand und eine zehnte komponierte. Der Grund: Stalin war am 5. März 1953 gestorben (übrigens am gleichen Tag wie der ebenfalls von Stalin gemassregelte Komponist Sergej Prokofiev). Jetzt vergewisserte sich Schostakowitsch seiner eigenen Identität und schrieb sich seinen Frust und seine Wut vom Leibe. Sie können den zweiten Satz als brutales Stalin-Bild hören und den persönlichen Code D-Es-C-H im dritten als Piccolo-Walzerchen oder im vierten in einer gequälten Variante, aber auch als finale Pauken-Orgie. Schrankenloser artikuliert hat er sich in keinem anderen seiner Werke.

  • Definition von Glück und Unglück im Sozialismus: Glück ist, in diesem Sozialismus zu leben – und Unglück ist, dieses Glück zu haben.

    (Tschechischer Witz, den mir mein Freund und Janáček-Spezialist Dr. Jiří Jirák im September 1978 in Prag erzählt hat)

    Mir scheint, dass Schostakowitsch beim Komponieren seiner 10. Sinfonie etwas Ähnliches gedacht haben könnte wie die Tschechen in den siebziger und achtziger Jahren zur Zeit der Breschnew-Herrschaft.

    Nach Stalins Tod am 5. März 1953 hat Schostakowitsch in kurzer Zeit die 10. Sinfonie komponiert und sie noch im gleichen Jahr uraufführen können. Die zwanzig Jahre unter der Herrschaft von Stalin waren für einen jungen Komponisten, der in der ganzen Welt anerkannt wurde, die Hölle. Er war Russe und akzeptierte auch die durch die Revolution entstandene politische Lage, trat aber für die Freiheit der künstlerischen Aktivitäten ein. Als die «Knebelung der Kunst durch grobe Macht» zu gross wurde, protestierte er, wurde aber dann gemassregelt (1936). Er lenkte mit seiner 5. Sinfonie (teilweise) ein, begann aber ein Doppelspiel, das er als Klavierimprovisator bei Stummfilmen schon einigermassen eingeübt hatte. In der 9. Sinfonie (1945) hat er dies in einer Haydn-ähnlichen Sinfonie perfektioniert. Die zweite Massregelung im Jahr 1948 hatte wieder zu einem Aufführungsverbot für einige Orchesterwerke geführt und zur Ächtung als «Volksfeind». Acht Jahre lang hat er keine Sinfonie mehr geschaffen, nachdem die Neunte von der Obrigkeit verurteilt worden war.

    Es scheint, dass er sich in der Zehnten seiner eigenen Identität musikalisch vergewissern wollte. Das Werk wird mit dem Anklang an die Faust-Sinfonie von Franz Liszt eröffnet und zitiert gleich aus einem seiner Puschkin-Monologe «Was liegt dir wohl an meinem Namen?» (op. 91/2). Im dritten Satz mit dem auffälligen Hornmotiv, das 12 Mal erklingt, wird der Name seiner Studentin Elmira Nazirova aus Aserbeidschan in Noten ausgeführt [1] und gleich erscheint auch sein eigener Name in den vier Noten d-es-c-h. Aber schon im ersten Satz hatte er diese vier Töne angedeutet, allerdings in anderer Reihenfolge: d-c-h-es (T 313–319). Der vierte Satz kulminiert in einem Wutausbruch der Kesselpauke mit diesen vier Tönen in demonstrativer Selbstgewissheit:                         

    Der aggressivste Satz aber ist der zweite, der mit ungezügelter Heftigkeit in knapp vier Minuten durchrast, mit zwei kantigen Motiven, die man als Hetz- und Gewaltmotiv bezeichnen kann und einem abwärts-fokussierten Rollmotiv, das alles unter sich begräbt. Zweimal ist das mittelalterliche «Dies irae» zu erkennen, beim ersten Mal, bloss mit Fagott und Kontrafagott besetzt, kaum hörbar, das zweite Mal gut 100 Takte später in drohender Lautstärke mit Hornquartett, Trompeten und Holzbläsern; der Satz endet aber mit dem kantigen Hetzmotiv. Der polnische Schostakowitsch-Biograf Krzysztof Meyer hat darauf hingewiesen, dass diese Töne aus dem Einleitungsmotiv von Mussorgskys «Boris Godunov» abgeleitet sind und damit an die despotische Herrschaft des russischen Herrschers erinnern kann. Laut «Zeugenaussage» von Solomon Volkow [2] hat Schostakowitsch hier ein Portrait des Despoten Stalin komponiert. Im dritten Satz wird dann allerdings aus dem Hetzmotiv eine Variante abgeleitet, die freundlicher klingt und die mit den Tönen c, d, es, h das d-es-c-h-Motiv ins Spiel bringt, das dann im vierten Satz kulminiert.

    Satzübergreifend kann man Schostakowitschs Idee darin erkennen, dass er das ungewisse «Wer bin ich?» in der Diktatur (1. Satz) neben den Diktator (2. Satz) selbst hinstellt, sich aber doch noch im privaten Bereich mit einem Menschen verbunden sieht (3. Satz), der es ihm dann ermöglicht, sich selbstbewusst zu artikulieren (4. Satz) und zu erkennen, dass er die Hölle irgendwie überstanden hat.

    Da ist aber im ersten Satz noch ein drittes irgendwie unscheinbares Motiv, das immer wieder ertönt, sich aber in seiner lahmen Pendelbewegung wie ein «Treten an Ort» anhört. Wenn es mit einem der Hauptmotive kombiniert wird, darf man annehmen, dass es mit Bedeutung belegt ist. Das Notenbild und der träge Klang erinnern an eine Passage in Igor Strawinskys «Sacre du printemps», die in der «Introduction» des zweiten Teils einen Stillstand suggeriert. Dieser zweite Teil ist mit «Le sacrifice» übertitelt – «das Opfer». Man weiss zwar, dass sich Schostakowitsch intensiv mit Werken von Strawinsky befasst hat, nicht aber mit dem «Sacre». Dennoch könnte ihm dieses lähmende Klangbild die Opferrolle suggeriert haben, die ihm als geächtetem «Volksfeind» aufoktroyiert worden war. Dieses «Treten-an-Ort-Motiv» liegt nämlich zwischen dem Eigenzitat aus dem Monolog Nr. 2 nach Puschkin, «Was liegt dir wohl am Namen mein?» und dem ersten Erscheinen des verschleierten Eigennamens D-C-H-Es, also zwischen den Takten 140 und 317. Etwas später (T 365–390) wird das Faust-Zitat von ihm eingeklemmt.

    Man ist versucht, dieses Faust-Zitat in veränderter Form auch im «Hetzmotiv» und im «Rollmotiv» zu erkennen: die doppelte Aufwärtsbewegung einer Notengruppe ist vergleichbar, beide Motive zeigen eine aggressive und eine friedliche Variante.

    [1] In seinem Brief vom 29.08.1953 teilt Schostakowitsch ihr mit, dass er ihren Namen in ein Tonsymbol umgewandelt habe und erklärt es ihr en détail. Dies ist erst 1994 von Nelly Kravetz beim Studium der Schostakowitsch-Briefe entdeckt worden. Von 1953-56 hat er ihr 34 Briefe geschrieben.

    [2] «Zeugenaussage» Die Memoiren des Dmitrij Schostakowitsch. Aufgezeichnet und herausgegeben von Solomon Volkow. Albrecht Knaus Verlag, Hamburg 1979

Satz 1 — moderato

Dauer: 25 min


Satz 2 — Allegro

Dauer: 4 min


Satz 3 — Allegretto

3/4-Takt 505 Takte, zwei 4/4-Takte 98+99
Dauer: 13 min


Satz 4 — Andante

Dauer: 14 min


Sätze 1—4

mit satzübergreifenden Elementen
Dauer: 55 min

Anna Meyer

Genauso Grafik ist das Studio von Anna Meyer. Bei mir steht der Mensch im Mittelpunkt. Ich lege Wert auf individuelle Auftritte, klare Kommunikationskonzepte und zeitgemässes Webdesign.

Meine Stärken liegen im konzeptionellen, verständlichen und zielorientierten Gestalten, im Projektmanagement und in der Kommunikation mit Menschen. Seit 2010 führe ich mein Atelier im Herzen von Zürich.

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